Psychische Erkrankungen und Störungen rufen den Wunsche nach Ruhe, nach einem Ende allen Leides hervor – Suizidgedenken, -absichten oder sogar -handlungen sind keine Seltenheit. Auch ich verfalle immer wieder in diese Abgründe. Wie sich das anfühlt und wie ich aus den Tiefen immer wieder rauskomme.
Wie ein Fötus zusammengekauert liege ich auf meinem 90 Zentimeter kleinen und harten Bett. Klinikstandard. Die orange Decke bedeckt meinen ganzen Körper bis zum Hals, so dass nur noch mein Kopf zu sehen ist. Mein Blick ist auf die kahle weisse Wand gerichtet. Eine Träne kullert meine Backen hinunter. Ich fühle mich allein. So allein, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe.
Durch die Türritzen dringt eine traurige, melancholische Musik. Eine Mitpatientin spielt im Gemeinschaftsraum Klavier – „Una Mattina“ von Ludovico Einaudi. Es erinnert mich an den Film „Ziemlich beste Freunde“, in dem ein Tetrapregliker auf eine unverhoffte Begegnung trifft und in seinem Pfleger seinen besten Freund findet.
Eine herzzerreissende Geschichte, die aufzeigt, dass selbst die Schwächsten unserer Gesellschaft Hoffnungen hegen und Freude in ihr Leben lassen können. Etwas, das ich nicht mehr kann. Zumindest fühlt es sich für mich seit langer Zeit so an.
Ich bin Jay, 26 und in meinen Augen ein Häufchen Elend. Wer bin ich? Was macht mich aus? Ich weiss es nicht. Ich kenne keine Antwort darauf. Das spielt auch gar keine Rolle, denke ich mir. Unsere Zeit auf dieser Welt ist begrenzt. Sie ist sinnfrei. Wir leben, um zu sterben.
Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, mit diesen Gedanken auch nur ein bisschen Hoffnung, ein bisschen Kraft zu bündeln, um weiter zu leben? Eine schwierige Situation, von der ich nicht weiss, wie ich sie meistern kann.
Seit Jahren kämpfe ich gegen diesen dunklen Vorhang, der sich immer wieder vor meinen Augen schliesst und die Welt trüb und kalt erscheinen lässt. Kaum verspüre ich ein wenig Freude, schwindet diese ganz schnell wieder und weicht den Gedanken von Hoffnungs- und Sinnlosigkeit.
Alles scheint als blosser Zeitvertreib, um auf den Tod zu warten. Kino, Essen, Freunde treffen – alles bloss Mittel zum Zweck. Wieso ist ein solches Leben lebenswert? Wieso soll ich all diese Strapazen auf mich nehmen, wenn das Ende bereits feststeht? Wieso soll ich versuchen, einen Unterschied in dieser Welt zu machen, wenn es sowieso nicht darauf ankommt? Irgendwann sterben wir alle. Überreste unserer Daseins mögen im Ausnahmefall eine Weile überdauern. Doch sie verblassen.
Und auch unser Lebensraum verschwindet. Langsam, aber sicher. Die Erde wird es irgendwann nicht mehr geben und so auch unsere Erinnerungen nicht mehr. Freude, Hoffnung, Liebe, Trauer, Wut, Hass: Alles verschwindet.
Ich liege in meinem Bett in der Psychiatischen Klinik, während sich diese Gedanken abermals in meinem Kopf breit machen. Ich denke an meinen geliebten Partner und an unseren Hund, zwei Dinge, die mich am Leben erhalten, wie eine Maschine einen hirntoten Patienten. Dieser kann nicht mehr selbst entscheiden, ob er definitiv und unwiderruflich aus dem Leben scheiden möchte. Die Angehörigen entscheiden das für ihn. Auch, wenn der Abschied schmerzt, die allermeisten lassen ihren geliebten Menschen gehen, weil er nicht mehr fühlen, denken und lieben kann. Alles, was das Leben in irgendeiner Weise lebenswert macht. Man lässt los, weil man weiss, dass man abschliessen und loslassen muss.
Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ist das anders. Man lässt die Maschine laufen, weil man noch Hoffnung hat, weil man nicht loslassen möchte, weil man will, dass dieser Mensch kämpft und vielleicht irgendwann ein lebenswertes Leben führen kann. Man möchte um jeden Preis verhindern, dass dieser Mensch seine Maschine abstellt und sich das Leben nimmt.
Angehörige halten sich an einem dünnen seidenen Faden fest. Und auch Betroffene greifen immer wieder nach diesem. Doch irgendwann reist dieser Faden so tief in die Hände, dass es schmerzt. Man erträgt den Schmerz eine Weile. Aber irgendwann wird er zu stark. Irgendwann muss man loslassen.
Wie sehr würde ich mir wünschen, nicht so zu denken. Wie sehr würde ich mir wünschen, einfach Freude am Leben und den Menschen zu haben. Aber es geht nicht. Zumindest nicht nachhaltig. Immer wieder werde ich in dieses tiefe schwarze Loch geworfen. Mit Müh und Not schaffe ich es immer wieder raus, bis zum nächsten Fall.
Meine Hände sind gezeichnet, meine Kraft langsam am Ende. Und ich vermag nicht mehr, diese zu erneuern. Ich weiss nicht, wo ich neue herbekomme. Es scheint, als vermöge kein Ort meine ausgelaugten Batterien wieder so zu füllen, dass ich ein Leben erreichen würde, um wieder unbeschwert Lachen zu können, glücklich zu sein und Vorfreude zu empfinden.
Trübnis umhüllt mich. Mit jedem Fall etwas mehr. Und jeder Klinikaufenthalt macht mir die Omnipräsenz psychischer Erkrankungen erneut bewusst und wie machtlos man diesen ausgeliefert sein kann.
Ich mag mich noch genau erinnern, wie ich die Zeilen verfasst habe. Ich war an einem Tiefpunkt angelangt. Ich mochte nicht mehr. Ich habe mir lange überlegt, ob ich diese Zeilen öffentlich teilen will und bin zum Schluss gekommen, dass es das Richtige ist. Ja, sie greifen tiefen Schmerz auf und ziehen jedes noch so frohe Gemüt runter. Aber die Zeilen sind ehrlich – und sie drücken das aus, was viele Betroffene von psychischen Erkrankungen und Störungen durchmachen.
Es ist an der Zeit, dass wir darüber reden. Nur so fühlen wir uns nicht mehr alleine. Nur so realisieren wir, dass wir nicht die einzigen sind, die leiden. Nur so kapieren wir, dass es Leute gibt, die solche Gedanken hegen, es aber geschafft haben und ein glückliches Leben führen können.
Noch bin ich nicht an diesem Punkt. Meine Stimmungsschwankungen reissen mich immer wieder in die Abgründe meiner Seele. Aber ich kämpfe weiter. Warum? Weil es sich lohnt. Das weiss ich, weil es viele Betroffene gibt, die erlebt haben, dass das Leben lebenswert sein kann. Nicht nur für eine Stunde, einen Tag, eine Woche. Die Zeit, in der es einem gut geht, wird immer länger. Die Krisen kommen immer weniger schnell. Und: Man lernt mit den Tiefs umzugehen. Man akzeptiert sie – und schwächt sie damit automatisch ab. An diesen Gedanken, dieser Hoffnung halte ich mich fest.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens hat schon einige Menschen beschäftigt – und zerrissen. Auch mich. Ob unser Leben einen Sinn hat oder nicht, ist letztlich aber sowieso egal. Das, was unser Leben lebenswert macht, ist, was uns selbst Sinn gibt. Es gibt so viele Möglichkeiten, die das Leben bietet, die wir ausschöpfen können. Wir müssen lernen, den Blick auf dieses Positive zu lenken und nicht immer nur dem Negativen Platz in unserem Leben Platz zu geben.
Auf der Suche nach dem für mich Lebenswerten hat mir geholfen, mir Sachen aufzuschreiben, die mir Sinn geben und auf die ich mich freue. Das Bild schaue ich jeden Tag an. Es gibt mir Mut und Kraft, Dinge umzusetzen, die mir Freude bereiten. So beispielsweise auch dieser Blog. Er gibt mir insofern Sinn, als dass ich die Krankheiten und Störungen, die ich habe, positiv nutzen kann, um anderen zu helfen und die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren.
Hier einige Anregungen, wieso es sich lohnt zu leben:
- Zeit heilt alle Wunden. Es kann besser werden.
- Für Gerechtigkeit kämpfen
- Anderen Lebewesen helfen, ihr Leben positiv zu beeinflussen
- Schöne Erlebnisse und Aktivitäten
- Erinnerungen schaffen
- Familie gründen
- Freunde finden
- Etwas wagen
- Reisen
- Die Lebensbedeutung im Leben selbst finden
- Träumen nachgehen
- Sich verwöhnen lassen
- Tiere um sich haben
- Filme und Serien schauen
- Musik hören
- Für Werte und Überzeugungen einstehen
- Das tun, worauf man Lust hat
- Leckeres essen (einfach nur essen oder selbst kochen/backen)
- Etwas bewirken
- Füreinander da sein
- Lieben
- Genuss
Hast du noch weitere Ideen? Schreib Sie in die Kommentare oder schicke mir eine Mail an jay@bordiblog.ch.
_______________________________
Suizidgedanken – was tun?
Holen Sie sich Hilfe:
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da.
Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143, www.143.ch
Beratungstelefon Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147, www.147.ch
Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben:
Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net
_______________________________