Menschen mit einer psychischen Erkrankung hadern oft mit ihrem Selbstwert. Wie es gelingt, diesen wieder auf Vordermann zu bringen.
Die Gedanken sind trist, der Blick in die Zukunft hoffnungslos und man fühlt sich in seiner eigenen Haut nicht wohl: Menschen mit psychischen Erkrankungen und Störungen kämpfen oft mit einem zu geringen Selbstwert. Dabei ist es genau dieser, der unter anderem dafür sorgt, dass es wieder bergauf geht. Doch wie kann der Selbstwert gestärkt werden?
Der erste Weg betriftt die Handlungsebene: Dabei ist es zentral, dass man freundlich mit sich umgeht, Verständnis für sich selbst und die eigene Situation zeigt. Es geht um eine Art Waffenstillstand mit sich selbst.
Viele psychische Erkrankungen und Störungen resultieren unter anderem aus externen Faktoren, beispielsweise Mobbing, eine schlechte Kindheit, einschneidende Erlebnisse, aber auch aus Kritik, Demütigung, Ablehnung oder sozialen Ängsten. Letztere beinhalten Erlebnisse von Ausgrenzung, das Einnehmen von Aussenseiterrollen oder Vermeidung, also Rückzug. Wenn Menschen solche soziale Ängste haben, tun sie alles, um nicht mit solchen konfrontiert zu werden: Man exponiert sich nicht, man steht nicht für die eigene Meinung ein oder man meidet aktive Beziehungen. Dabei steigert der Mensch genau über diese Dinge seinen Selbstwert. Sprich: Menschen mit einem niedrigen Selbstwert meiden Situationen, die überhaupt Selbstwert geben. Das Motto dabei: Ich grenze mich aus, bevor es andere machen.
Der zweite Weg, den ei9enen Selbstwert zu stärken, führt über Denkarbeit: Man muss lernen, mit tief verankerten negativen Annahmen, die man von sich selbst hat, umzugehen. Es geht auch darum, den negativen Fokus auf sich selbst abzulegen: Es ist wichtig, nicht immer nur das Negative, sondern auch die positiven Eigenschaften von sich selbst zu erkennen.
Tönt jetzt alles schön und gut, doch wie funktioniert das in der Praxis? In der DBT-Therapie, einer Therapie für Borderline-Patientinnen und Patienten, gibt es verschiedene Skills, die im Alltag angewendet werden können, um den Selbstwert zu stärken. Auch für Menschen ohne oder mit einer anderen psychischen Erkrankung sind diese Skills sehr hilfreich.
Fairer Blick
Beim Skill «fairer Blick» geht es darum, dass man sich selbst und andere nicht ständig mit einem anderen Massstab beurteilt. Ein Beispiel: Wenn ich ein Glas fallen lasse, schäme ich mich in Grund und Boden. Ich entschuldige mich, fühle mich schlecht und werte mich vollkommen ab. Wenn ich aber nun den fairen Blick anwende, sieht meine Reaktion anders aus. Ich stelle mir vor, wie ich reagieren würde, wenn jemand anderes das Glas hätte fallen lassen und ob ich finde, dass die Gefühle, die ich gerade wahrnehme, wirklich berechtigt sind. Ich komme zum Schluss: Nein. Ich würde nicht wollen, dass jemand wegen eines zerbrochenen Glases Schuldgefühle hat und sich abwertet. Folglich gehe ich netter mit mir um und sage mir, dass das nicht so schlimm war und ich deswegen sicher nicht meinen Selbstwert runterdrücken muss.
Insel-Skill
Um den Selbstwert zu steigern, ist es gut, wenn man ab und zu etwas freundlicher mit sich selbst ist. Es geht um Achtsamkeit: Wer selbst spürt, wie er sich gerade fühlt und was er braucht, lernt sich erstens besser verstehen und zweitens besser auf seine Bedürfnisse zu achten. Hierfür ist der Insel-Skill ein geeignetes Tool.
In = Innere Aufmerksamkeit
S = Selbstvalidierung
E = Experimentieren
L = Eine gute Lösung finden
Am Anfang ist es wichtig, klein zu beginnen, sprich in «einfachen» Situationen den Skill anzuwenden. Beispiel: Ich sitze im Büro auf dem Stuhl. Ich merke, dass etwas nicht gut ist. Zuerst konzentriere ich mich darauf, wie ich sitze und überlege mir dann, ob es bequem ist oder nicht. Dann validiere ich mich selbst: Ich erkenne meine Wahrnehmung so an, wie sie gerade ist. In einem weiteren Schritt experimentiere ich mit meiner Sitzposition. Zum Schluss finde ich eine Lösung, die mein Wohlbefinden steigert.
Beim Insel-Skill geht es darum, sich selbst und seine Bedürfnisse achtsam wahrzunehmen und diese umzusetzen. Es lohnt sich, den Skill mehrmals täglich anzuwenden. Mit der Zeit gelingt es auch in komplexeren Situationen, die eigenen Empfindungen besser zu verstehen und anzumelden.
Frust ausbalancieren
Was macht den Unterschied aus zwischen Menschen, die mit Alltagsfrust leben können und solchen, die aus der Bahn geworfen werden? Die Balance. Alltagsfrust kann durch angenehme Erfahrungen ausbalanciert werden.
Stellen Sie sich eine Waage vor. Links befinden sich belastende Ereignisse (schlechtes Wetter, doofer Chef, Termin abgesagt etc.), rechts sind die angenehmen Erfahrungen (erholendes Bad, nette Gespräche, leckeres Essen etc.). Jede gute Erfahrung wiegt fünf Mal mehr als die schlechten. Wenn Sie in ihrem Alltag zehn schlechte Erfahrungen gemacht haben, dann planen Sie sich mindestens zwei angenehme ein.
Das Verhältnis kann man mit der Zeit von 5:1 auf 4:1 und 3:1 anpassen.
Glaubenssätze und Grundannahmen
Die Königsdisziplin bei der Erhöhung des Selbstwertes ist das Umformulieren von negativen Glaubenssätzen und Grundannahmen.
Grundannahmen = Gewisse Einstellungen von sich und der Welt (Bsp. Ich bin nichts wert).
Glaubenssätze: Automatische Handlungsanweisung, die auf Grundannahmen basieren.
Um Grundannahmen zu erkennen und zu verändern, müssen zuerst Glaubenssätze gefunden und umformuliert werden. Das geht so:
Halten Sie Situationen fest, in denen Sie negative Glaubenssätze ausmachen, sprich Situationen, in denen sie dazu tendieren, «falsch»zu handeln. Beispiel: Ich habe Angst davor, mit jemandem zu telefonieren, deshalb mache ich es nicht. Überlegen Sie sich, welcher Glaubenssatz dahinter stecken könnte. Beispiel: Wenn ich jemanden anrufe und dieser nicht abnimmt, dann fühle ich mich zurückgewiesen.
Um den Glaubenssatz zu ändern, ist es zentral, dagegegen zu handeln, also Anrufe zu tätigen. Mit jeder positiven Erfahrung schwächt sich der Glaubenssatz ab. Man spricht davon, dass es 21 solcher positiver Erfahrungen braucht, bis sich der negative Glaubenssatz ändert. Es kann durchaus sein, dass man trotz dem entgegengesetzten Handeln negative Erfahrungen macht. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen, das gehört dazu.
Sobald der negative Glaubenssatz angegangen wird, beginnt der Prozess, dass sich negative Grundannahmen (Beispiel: Ich habe Angst vor Ablehnung) zu ändern beginnen. Das braucht Zeit. Viel Zeit. Seien Sie geduldig mit sich. Der Weg ist das Ziel.
Den Selbstwert zu stärken geschieht nicht von heute auf morgen. Es ist ein langer Prozess mit Höhen und Tiefen. Aber es wird besser. Mit jedem kleinen Fortschritt steigt die Lebensfreude. Und dafür lohnt es sich, an sich zu arbeiten.