Nähen ohne Betäubung: Wieso Borderliner nach Selbstverletzungen Verständnis brauchen

Menschen mit der Diagnose Borderline verletzen sich selbst, in dem sie sich etwa die Arme aufschneiden oder sich Brandwunden zufügen. Warum machen sie das? Und wieso es der falsche Weg ist, sie dafür zu verurteilen – wie es manche Ärzte in Schweizer Notaufnahmen tun.

Unverständnis: Dieses Wort trifft die Reaktion vieler, wenn sie damit konfrontiert werden, dass Borderline-Patientinnen und -Patienten sich selbst verletzten. Mit vielen sind nicht nur Laien gemeint, sondern auch Ärzte und Menschen, die in Psychiatrien arbeiten. Borderline scheint zu überfordern, dabei ist das Verständnis für Menschen mit einer solchen Störung essentiell, damit sie heilen können.

Menschen mit Borderline werden von ihren Emotionen überrannt. Sie können mit diesen kaum umgehen. Die ständigen Stimmungsschwankungen und die permanente Angst, nicht zu genügen und verlassen zu werden, verstärken das Gefül, mit sich selbst nicht zurechtzukommen. Die Flut an starken Emotionen führt häufig zu einer Art Druckgefühl. Borderliner fühlen sich trotz oder gerade wegen ihrer überschwänglichen Gefühle innerlich leer. Die Unfähigkeit, mit den Gefühlen und dieser Leere umzugehen, kann in einer Hochanspannung resultieren. In dieser kann es zu selbstverletzendem Verhalten wie Schneiden, Kratzen, Verbrennen oder Schlagen, kommen.

Kurzfristig bietet selbstverletzendes Verhalten den Betroffenen Entspannung und Erleichterung. Es ermöglicht ihnen, starke Emotionen abzubauen.

Längst nicht alle Borderliner verletzen sich selbst. Das ist ein Vorurteil, das sich hartnäckig in der Gesellschaft hält. Was aber bei praktisch allen Borderlinern feststellbar ist, ist dysfunktionales Verhalten, also ein Verhalten, das langfristig nicht sinnvoll ist. Beispiele dafür sind übermässiges Sporttreiben, Drogen und Alkohol konsumieren, Hochrisikoverhalten etwa beim Überqueren einer Strasse, Vermeidung beispielsweise durch Gamen oder Rückzug durch Isolation.

Selbstverletztendes und dysfunktionales Verhalten führt bei Borderlinern langfristig zu negativen Konsequenzen. Deshalb ist die Therapie von Betroffenen darauf ausgelegt, den Umgang mit Gefühlen zu schulen und Skills zu finden, die bei einer Hochanspannung angewendet werden können, so dass es nicht zu selbstverletztendem Verhalten kommt (Duftstift, saure Bonbons lutschen, scharfer Kaugummi essen, laute Musik hören.)

Eine langfristig Konsequenz von selbstverletztendem Verhalten ist auch die Stigmatisierung durch die Gesellschaft. Borderliner werden als jene abgestempelt, die sich «ritzen». Das führt dazu, dass sich Betroffene kaum ernst genommen fühlen. In Psychiatrien ist es heute noch so, dass das Pflegepersonal und selbst Ärzte mit Borderline überfordert sind. Selbstverletzungen werden bestraft oder es fallen Sätze wie «das müssen sie selbst verarzten, nach so einer Dummheit helfe ich ihnen nicht auch noch.» In Notaufnahmen von Spitälern, ja selbst in einigen Psychiatrien, kommt es vor, dass Wunden ohne Betäubung genäht werden – als zusätzliche Bestrafung sozusagen.

Die Verurteilung von selbstverletzendem Verhalten ist kontraproduktiv und dient in keinster Weise der Heilung eines Borderline-Patienten. Im Gegenteil: Es fördert die Stigmatisierung der ohnehin schon schweren Persönlichkeitsstörung und drückt den angeschlagenen Selbstwert von Betroffenen noch weiter runter. Kurzum: Das Leid wird verstärkt.

Hilfreich hingegen wäre Verständnis und die Bereitschaft, den Ursprung des selbstverletzenden Verhaltens zu eruieren. Nur so kann eine zielgerichtete und nachhaltige Therapie erfolgen.

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